Von Amors Pfeilen angeschossen

Der Herr Deutschlehrer und seine die Schülerin des Abiturjahrgangs auf Klassenfahrt. Hatte ich gedacht. Bevor sie mit diesem Mittelding aus Mund-zu-Mund-Beatmung und gegenseitigem Auffressen begonnen hatten. Und nicht etwa im Berghain in Berlin, sondern direkt neben mir, in Florenz, im Boboli-Garten. Auf meiner Bank!

Für einen Moment hatte ich befürchtet, ich müsse Hilfe holen, weil sich ihre Zungenpiercings miteinander verhakt hätten. Dabei wusste ich nicht mal sicher, ob der frühe Lustgreis und seine juvenile Beischlafassistentin direkt neben mir überhaupt welche hatten.

Es war mir dann doch ein wenig unangenehm so direkt daneben zu sitzen. Nicht dass ich spießig oder verklemmt wäre. Aber die kümmerlichen Überbleibsel meines eigenen Anstandsgefühls wollten ihnen mehrfach zurufen: “Nehmt euch ein Zimmer!” Andererseits: Wir waren hier in Florenz, an Ostern, und schon mein Zimmer war bei der kurzfristig 6 Monate im Voraus erfolgten Buchung eines der letzten bezahlbaren gewesen. Die jetzt noch verfügbaren Unterkünfte würden zweifellos die finanziellen Möglichkeiten eines Deutschlehrers übersteigen.

Der knabberte jetzt an ihrem Ohrläppchen. Und so intensiv, wie sie sich gerade rittlings auf seinen Schoß herüber gerobbt hatte, war ihr die spätere Beförderung zu seiner Altenpflegerin so gut wie sicher. Ich saß irgendwie verdattert daneben, hatte ich doch eigentlich nur ein bisschen die Schönheit der Medicigärten genießen wollen und jetzt das ungute Gefühl, mitten in eine Borgiaorgie geraten zu sein.

Gewiss, ich hätte aufstehen und weggehen können. Doch auf keiner der anderen Bänke war kein Platz frei. Und hinzu kam meine urdeutsche Verbissenheit, die mich meinen liegestuhlartig mit einem unsichtbaren Handtuch reservierten Sitzplatz nicht kampflos preisgeben lassen würde.

Wusste ihre Mutter eigentlich…? Egal. Sie würde sich sicher gut mit ihrem Schwiegersohn pro tempore verstehen, der vielen Gemeinsamkeiten wegen. Des Alters zum Beispiel. Und der Vorliebe für den Deutsch-Pop der 80er Jahre. Seine Freundin dagegen hielt Spliff definitiv für einen Badezimmerreiniger aus dem Drogeriemarkt. Für streifenfreie Reinheit.

Reinheit. Oder Unschuld. Dieser Zug war hier auf meiner Parkbank schon eine Weile abgefahren. Ich war von Italien ja so einiges gewöhnt: Wenn man(n) bis Mitte 40 bei Mamma wohnt, muss man zwangsläufig auf jeden Ansatz von Privatsphäre verzichten. Oder diese außer Haus suchen. Auf das Pärchen auf dem Seitenstreifen der Autobahn nach Rom, dass sich dort auf der Motorhaube des nicht nur wegen seiner in die Jahre gekommenen Stoßdämpfer schwankenden Cinquecentos vergnügte, war ich dann aber doch nicht gefasst gewesen und wäre um ein Haar im Straßengraben gelandet.

Auch ein weiteres Mal wäre mir meine Gutmütigkeit fast zum Verhängnis geworden. Nachdem ich mehrfach an der zwischen den beiden Badeorten auf eine Mitfahrgelegenheit hoffende afroitalienische Tramperin vorbeigefahren war, erbarmte ich mich ihrer und hielt an, weil sie ja sonst niemand mitzunehmen schien. Zu meiner ausgesprochenen Überraschung verlangte sie sehr aufdringlich und mit obszönen Gesten Geld für die Mitfahrt und schimpfte mir lautstark und mehrsprachig hinterher, als ich dies ablehnte. Ich möchte ihre Worte hier lieber nicht wiederholen.

Little Miss Sunshine neben mir war mittlerweile wieder von ihrem väterlichen Lehrmeister herunter geklettert. Er hatte es vermutlich im Rücken so wie häufig in diesem Alter. Mit zitternden Bewegung begann sie unrhythmisch vor ihm hin- und herzutanzen: Ein untrügliches Zeichen für eine abgebrochene Cheerleaderausbildung. Ihm schien es dennoch zu gefallen, eine gute Benotung von ihm war ihr wohl sicher. Den mittlerweile zahlreich um uns herum stehenden Zuschauern ihren irritierten Blicken nach zu urteilen wohl eher weniger. Dennoch befürchtete ich, dass die Umherstehen jeden Moment mit rhythmischem Klatschen beginnen würden.

Wobei mir Klatschen und Gejohle wohl wenigstens einen Vorwand gegen würde, möglichst unauffällig von hier zu verschwinden. Denn meinen höchstpersönlichen Sitzplatz auf meiner Parkbank aufzugeben hatte ich mittlerweile als unvermeidbaren Kollateralschaden meiner Fluchtbemühungen einkalkuliert.

Just als die beiden sich erneut ineinander verknoten wollten, hatte der Himmel ein Einsehen und schickte urplötzlich einen kalten Regenschauer auf uns herunter. Um kein Aufsehen zu erregen, ließ ich meinen Schirm hinter die Bank fallen und stand hektisch auf, um am Parkeingang Schutz vor dem Regen zu suchen. Die kalte Dusche würden den beiden jetzt wohl auch gut bekommen.

Mit diesem Beitrag geht mein Blog in die Sommerpause. Auf facebook und Twitter gibt es auch den Sommer über kleine neue Beiträge zu lesen. Hier geht es ab Mitte September weiter!