O mio bambino caro. Oder: Wie redest du denn mit deinem Onkel?

Ich sitze gemächlich in der wärmenden Frühlingssonne auf der altehrwürdigen Brücke Ponte Vecchio mitten im Herzen von Florenz. Also genau genommen kralle ich mich, und zwar fest an die Brückenbrüstung, aus Angst, von einer Busladung chinesischer Touristen in den feuchtnassen Arno gedrückt zu werden. Doch weder heißt mein Vater Gianni Schicchi noch ist das hier eine Puccini-Oper. Und meine Neigung, kopfüber in den gerade erst vom Eise befreiten Flusslauf gedrängt zu werden, ist außerordentlich gering.

Obwohl… Oper… in der Ferne höre ich Opernklänge! Das Bontempi-Akkordeon des rumänischen Straßenmusikanten gibt eine Orgelversion der Puccini-Oper zum Besten während seine Freundin herzzerreißend in unglaublich unpräzisem Italienisch “O mio bambino caro” lächelnd trällert und dabei falsche Tränen vergießt. Ich frage mich, wann sie das Gesungene in die Tat umsetzt und endlich in den Arno springt? Vielleicht sollte ich ihr den Text übersetzen?

Fehlt eigentlich nur noch eine McDonalds-Filiale auf der Brücke und die Imitiation des Essener Hauptbahnhofes im Berufsverkehr wäre atmosphärisch auf den Punkt gelungen. Eine Art Magic Mountain für vermeintlich Kulturbeflissene. Obwohl… für die Eröffnung der neuesten Burgerbrater-Filiale hingen schon die Plakate direkt neben der Brunelleschi-Kuppel des Domes von Florenz als Vorankündigung für eine moderne Version von Dantes Hamburger-Inferno: The clash of cultures ist wohl auch hier unausweichlich. Immerhin ist in der dortigen Fußgängerzone wohl nicht mit einem Drive In zu rechnen.

Wissenstests für Touristen vor der Einreise nach Europa? So alt wie der europäische Tourismus! Nur leider nie umgesetzt. Doch hier dominieren nun eindeutig die Massen, die die Medici für eine Apothekenkette und Machiavelli für eine unständige italienische Sexpraktik halten. Neben den kitschigen Aquarellen des Kolosseums und der Rialtobrücke würden vermutlich auch Abbilder des Eiffelturmes und der Sagrada Familia hier für reißenden Absatz sorgen. Die rundliche Legginsträgerin mit dem “Make America great again”-Schlapphut ist da eine ganz heiße Kandidatin!

Ich muss zur Seite rücken, offenbar störe ich die sorgsam austarierte Harmonie eines Familienselfies. Die Daheimgebliebenen sollen schließlich auch etwas davon haben, dass man “da” gewesen ist. Wo doch schon die Nachtaufnahmen des Stadtpanoramas vom Hügel über der Stadt gestern Abend trotz Blitzlichts nichts geworden sind.

Zugegebenermaßen ist meine Grundstimmung heute Vormittag ein wenig nörgelig. Spätestens seit mich um kurz vor sieben eine spanische Schulklasse auf Osterklassenfahrt mit spontanem Chorgesang vor meinem Apartment weckte und danach die Kaffeemaschine den Dienst versagte, hatte dieser Tag ausgesprochen schlechte Karten. Und selbst das Gezwitscher der Vögel vor meine Fenster war mir zu laut. Dabei waren die noch dezent im Vergleich zu dem Monsterrülpser, den der chinesische Tourist gerade neben mir von sich gegeben hat. Der kam von ganz unten.

Ich muss schon wieder den Platz wechseln. Noch ein Selfie. Die Idee, am frühen Vormittag vor Hereinbrechen des täglichen Touristenansturms etwas unverfälschte Atmosphäre zu tanken, darf als gescheitert betrachtet werden. Für eine ausgedehnte Landflucht nach dahin-wo-die-Touristen-nicht-hingehen ist es jetzt aber auch zu spät. Und so beschließe ich, die Situation für mich zu nutzen, denn warum soll ich hier keine Spaß haben?

Und die Gelegenheit dazu ist günstig: Wenige Meter vor mir haben drei amerikanische Collegeabsolventinnen gerade einen koreanischen Familienvater wortlos ihre japanische Spiegelreflexkamera in die Hand gedrückt und posieren für ein Gruppenfoto. Ich schnappe mir eine leere Johnny-Walker-Flasche aus dem überquellenden Papierkorb neben mir, verwuschle mir die Haare, hechte in Richtung der Collegegirls, stoppe kurz hinter ihnen, grinse debil und winke mit der Whiskyflasche in die Kamera: “Cheese!” Das wird bei der Betrachtung des aufgenommenen Fotos noch reichlich für Diskussionen darüber sorgen, mit welch abartigen Typen die Mädchen in Europa herumgelungert sind!

Zwei weitere gecrashte Selfies später werde ich mutiger und quetschte mich zwischen zwei japanische Mittfünfzigerinnen mit einem weithin hörbaren: “Gondola, Gondola!”, welches mir zwar den verständnislosen Blick eines vorbeilaufenden Italieners aber auch ein verschüchtertes Lächeln der beiden Damen einbringt. Mit vollständigem venezianischen Gondoliereoutfit hätte ich hier vermutlich Einiges an Trinkgeld abgreifen können.

Auf der anderen Seite der Brücke entdecke ich die trumpbemützte Legginsträgerin und ihren Mann von vorhin wieder. Zielsicher pirsche ich mich heran und murmle ihr wissend zu: “Ist das nicht unglaublich, dass das alles hier nur als Kulisse für eine Fernsehserie gebaut wurde?” “What???”, entfuhr es ihr mit entgleißenden Gesichtszügen. “Ja, ´The Medici´. Mit Dustin Hoffman, auf Netflix. Müssen Sie sehen! Das ist episch. Vor den Dreharbeiten waren das alles Wiesen hier. Sogar die Hügel haben sie aufgeschüttet.”

Seinem und ihrem Gesichtsausdruck kann ich ansehen, dass sie die ganze Szenerie jetzt mit ganz anderen Augen sehen. Stolz lächelnd lassen sie ihren Blick über die Hügel rundum gleiten, im sicheren Wissen, dass sie ihren Freunden daheim jetzt wirklich etwas zu erzählen hatten. “Den besten Blick über die ganze Anlage haben Sie übrigens abends von der Piazza Dustin Hoffman da oben!”, sage ich zu ihnen und zeige auf die Piazzale Michelangelo, was mir einen verständnislosen Blick der neben mir stehenden italienischen Familie einbringt. Sie bedanken sich überschwänglich und ich suche schnell das Weite, bevor die mittlerweile schon recht aufgebrachten Italiener neben mir eingreifen können.

Mein nächstes Opfer ist eine junge deutsche Familie am anderen Ende der Brücke. Zielsicher peile ich sie an, lege meine Arme über ihre Schultern und sage laut: “Cheese!”. “Entschuldigen Sie mal!”, ruft die junge Mutter empört während sie mich weg stößt: “Was schleichen Sie sich denn so an uns ran?” “Wie redest du denn mit deinem Onkel?”, erwidere ich mit gespieltem Entsetzen. “Da müssen Sie mich verwechseln!”, sagt sie etwas verschüchtert.

“Ponte Vecchio. Nordseite. Punkt 10 Uhr.”, sage ich bestimmt während ich auf meinem Handy herum wische: “Deine Mutter hat mir sogar ein Foto von dir geschickt, damit ich dich leichter erkennen kann. Vermutlich wollte sie, dass es eine Überraschung wird, wenn wir uns jetzt endlich mal kennenlernen. Ich bin der der Halbbruder deiner Mutter. Aber du kannst Onkel Günter zu mir sagen!” Ich strecke ihr die Hand entgegen, mit einem Blick, der keinen Widerspruch duldet. “Onkel Günter?”, fragt sie leise und schüttelt vorsichtig meine Hand. “Aus Wuppertal. Und Poggibonsi.”, sage ich zustimmend.

“Sie hat wirklich niemals…” “…niemals etwas von mir erzählt? Ja, wir hatten lange keinen Kontakt und haben uns erst letzten Herbst hier wieder getroffen. Erinnerst du dich, dass sie dir Florenz so dringend als Reiseziel empfohlen hat? Sie wird ihren Grund gehabt haben.”, sagte ich augenzwinkernd. “ “Ja das kann sein.”, meint ihr bislang recht finster dreinblickender Mann etwas freundlicher: “Wir wollten eigentlich wieder nach Jesolo.” “Lasst und doch schnell ein Foto machen und es ihr schicken! Sie wird sich freuen.”, sage ich, gehe um sie herum und lege die Arme um ihre Schultern. Wir lächeln brav in die Kamera, ich schelmisch, die beiden noch etwas gequält. “Die Überraschung ist dir gelungen! Grüße aus Florenz von uns und Onkel Günter!”, tippt sie unter das Bild und schickt es schnell weg.

Zeit mich aus dem Staub zu machen: “Ich habe jetzt leider noch einen Termin. Aber vielleicht können wir uns abends wieder hier treffen, so gegen acht?” “Acht Uhr, gerne.”, antwortet sie lächelnd, während ihr Telefon anfängt, hektisch zu klingeln. Ich kann mir denken, wer da anruft und verschwinde winkend in der Menge. In sicherer Entfernung bleibe ich stehen, um kurz durchzuatmen. Gleich nachher würde ich meine Kaffeemaschine reparieren und mir Ohrenstöpsel gegen die aufdringlichen morgendlichen Chorsänger vor meinem Haus zulegen!

Foto: R. Richter