In 25 Jahren werde ich 70

Ich habe noch nicht im Briefkasten nachgesehen. Mein inneres Kind ist einfach noch nicht bereit, dort das ZDF-Zuschauermagazin nebst Begrüßungsschreiben “Willkommen in unserer Zielgruppe” vorzufinden. Facebook ging noch, die waren dezenter. Bunter Glückwunschblumenstrauß und keinerlei Kontextwerbung für Treppenlifte oder “Weniger müssen müssen.”

Obwohl… Facebook… das benutzen doch nur noch die Alten, oder? Schnell zum Test eingeloggt… puuuuh! … Twitter und Snap haben mich noch nicht aus Altersgründen zwangsabgemeldet. Gratulieren aber auch nicht so nett wie Facebook. Oder vermutlich bald das ZDF. Beäugen mich schon argwöhnisch.

Denn heute in 25 Jahren werde ich 70. Genau das richtige Alter, um mit so spannenden Sachen wie Reihenvorsorgeuntersuchungen zu beginnen, der großen Hafenrundfahrt des kleinen Mannes, wie mein Arzt mir neulich mit bedeutungsschwangerem Blick auf die Vorsorgebroschüre bedeutete. Ich werde den Arzt wechseln müssen.

Bevor ich ihn gestern besuchte, war mir irgendwie noch mehr nach Party. “Rhythm is a Dancer” … das war doch erst vor … oh doch schon so lange. Zeit, meine Spotify-Playlist zu updaten. Immerhin habe ich die. Ich konnte erfolgreich der familiären Veranlagung widerstehen, wie zuvor mein Vater einen Haufen kratzender und leiernder schellackoider Langspielplatten zu horten. Und die “Trending Hits”-Schaltfläche von Spotify ist bei mir immer nur einen Klick away. Auch wenn ich beim Durchstöbern dieser Liste immer häufiger den Kopf schüttle, weiter klicke und allerhöchstens beim Cover eines Hits von oh-doch-schon-so-lange hängen bleibe, um mir gleich danach das natürlich viel bessere Original anzuhören.

Hören. Auch so ein Thema. Also ich finde, es geht prima. Und richtig gute Musik will man ja auch ein bisschen lauter hören, oder? Und mit richtig gut meine ich natürlich aktuell. Mann will sich ja keine Blöße geben: Lady Gaga. Nicht Madonna, die weckt doch den Verdacht, man könnte schon viel länger Fan sein als gedacht. Oder diese Göre… wie heißt die noch… die… keine Ahnung… ich sollte doch mal wieder die “Trending Hits”-Liste von Spotify besuchen. Ist schon eine Weile her.

Dass ich mir meinen Tinnitus bei einem Greatest-Hits-Konzert einer Sängerveteranin zugezogen habe und nicht bei einem mehrtägigen Rockfestival gehört zu den unerzählten Dramen meines Lebens. Seitdem haust der unermüdliche Pfeifton in der Frequenz des ZDF-Testtons von 1984 in meinem Ohr. Und allein, dass ich diesen Vergleich zu 1984 noch ziehen kann, macht mich jetzt vermutlich zu einem der heißesten Anwärter auf die Zielgruppe des Senders.

Überhaupt. Das ZDF. Vermutlich die Senderheimat meiner späten Jahre. RTL wird mich ja unweigerlich in Kürze aus seiner jungen Zuschauerschaft vergraulen. Gut, das kann auch Vorzüge haben: Der Verzicht auf Dschungelmaden und schlechte Serienkonserven kann sich ja auch günstig auf die Geisteskraft auswirken. Und die will ja nun trainiert werden. Andererseits… ist es nicht gerade der verzeihende Nebel einer beginnenden Frühdemenz, der eine Rosamunde-Pilcher-Schmonzette im ZDF spannend und logisch erscheinen lässt?

Ich habe mir gerade einen Neopren-Anzug gekauft. Es ist mein Erster. Das hatte noch am gleichen Tag ganz unglaubliche Auswirkungen auf mein Leben. Also zunächst erst einmal auf die automatischen Produktempfehlungen bei Amazon. Heizdecken und reflektierende Sicherheitsarmbänder sind verschwunden, Taucherausrüstung und Paddleboards hinzugekommen. Amazon hält mich für jung und cool. Take that, ZDF!

So ein Neopren-Anzug ist ja eine prima Sache. Nicht so sehr, weil er warm hält. Kaltes Wasser ist seit den Ostseeurlauben meiner Kindheit bei erfrischenden 14 Grad Wassertemperatur nicht mein Problem. Aber er hält in Form. Eine Art Push-Up-BH für den nur noch vor dem eigenen geistigen Auge 25-jährigen Surferkörper.

Ich hatte mir den Anzug ja erst zwei Größen kleiner bestellt, aus alter Gewohnheit, und ihn dann zu Hause 8 Stunden zur Probe getragen. Also streng genommen war ich 59 Minuten mit dem nicht sonderlich eleganten Hineinschlüpfen beschäftigt, habe danach binnen einer Minute festgestellt, dass der definitiv zu eng ist, um dann 8 Stunden lang wie ein leicht perverser Spaziergänger mit Korsett unter dem Mantel durch die Stadt trippelnd auf der Suche nach einem Helfer zu sein, der mich aus diesem Ungetüm wieder herausschneiden würde. Weil selbst ging das keinesfalls mehr.

Amazon war übrigens sehr verärgert und hat mir den Kaufpreis nicht zurückerstattet. Immerhin kam das Gefühl in Armen und Beinen nach ein paar Stunden wieder. Das habe ich auch als versöhnliches Ende meiner ansonsten vernichtenden Kritik auf Amazon geschrieben. Die kalte Dusche schmerzte trotz nun passender Neopren-Schutzhülle einige Tage später umso heftiger, als Amazon mir per Kontextwerbung einen Sportzusatzversicherung für agile Senioren anbot.

Gegen ausdrücklichen Rat von … ja praktisch jedem habe ich zum Neopren-Shortie beim Discounter um die Ecke ein Aufblaskanu zum Schnäppchenpreis erstanden. Es lag vermutlich daran, dass ich die chinesische Montageanleitung nicht präzise genug übersetzt hatte… aber auch nach geschlagenen zwei Stunden war es mir nicht gelungen, alle Plastikwülste mit Luft zu füllen.

Dafür hatte das andauernde Einatmen der Plastikausdünstung Shenzener Art ganz wunderliche Effekte auf meinen Geist und meine Stimmung: Albernd kichernd wagte ich mich mit dem halb aufgeblasenen Kanu ins eiskalte Seewasser. Ich setzte mich ins das Kanu, sank kräftig nach unten, fühlte den Boden unter mir und soff prompt ab. Ich hatte nichtmal Zeit, eine anständige “König der Welt”-Geste wie weiland Kate und Leonardo im Kino in Titanic zu machen. Das war glaube ich im Jahre … oh doch schon so lange…!

Glücklicherweise vertrieb das gefühlt dem Gefrierpunkt nahe Wasser die Billig-PVC-Albernheit und mein Survivalinstinkt ließ mich festen Boden suchen. Helfen hätte mir schließlich hier niemand können: In einem seltenen Anfall von Schamgefühl hatte ich eine möglichst abgelegene Bucht für meine Kanuexperimente gewählt: Ohne Zuschauer, aber auch ohne Baywatch-Helfer.

Das Kanu landete direkt im Müllcontainer am Ufer. Nur die Paddel habe ich aufgehoben. Sie stützen jetzt die altersschwache Blumenampel auf dem Balkon. Zusammen mit dem Bauchmuskeltrainer vom gleichen Discounter. Und ich meinte eben natürlich Baywatch, den Film, und nicht Baywatch, die Serie, von … lassen wir das!