Mutti ist weg

Siegbert war selbst überrascht, als er sich an diesem verregneten Vormittag ein Lied summen hörte. Über Jahre, ja Jahrzehnte hinweg war er Tag für Tag in der finster hallenden Höhle des familiären Fahrradladens seiner Arbeit nachgegangen. Seine Mutter, gleich einem hochtoupierten Drachen, nahm derweil vom erhöhten Kassentresen im hinteren Teil des Ladens dank der exzellenten Akustik jedes auch nur zu freundliche Wort einer Kundin gegenüber mit missbilligendem Augenbraunenrunzeln und gekünsteltem Husten zur Kenntnis.

Seit 28 Jahren war Siegbert nun im “Zweiradparadies” beschäftigt. Die Hoffnung auf und die Drohung mit dem Verlust des elterlichen Erbes hatten ihn all die Jahre davon abgehalten, andere und eigene Wege einzuschlagen. Anders als sein Vater, der schon zwar beinahe zwei Jahrzehnten entnervt vom Zigarettenholen nicht mehr zurückgekehrt war, hatte er es nie gewagt, gegen Mutti aufzubegehren.

Sein von jeher spärlicher Haarwuchs hatte ihm nie ausreichend Basis gegeben, mit wilden Frisuren gegen das maternalistische Regiment zu rebellieren, schon gar nicht jetzt, wo nur noch ein rotblonder Kranz den hinteren Teil seines Kopfes krönte. Und jeder noch so verschämt verwegenen Form seines Bartwuchses bereitete er nach Muttis tadelndem Blick schon spätestens am Folgetag wieder energisch Einhalt.

Seine seit mehr als 15 Jahren andauernde heimliche On- und Off-Beziehung mit dem spröden Fräulein Gerlinde von schräg gegenüber war schon deshalb immer platonisch geblieben, weil Mutti stets klar gemacht hatte, dass im “Zweiradparadies” nur Platz für eine Frau sein und dass sie nicht die Absicht hatte, diesen Platz auf absehbare Zeit zu räumen.

Siegbert hatte sich über die Jahre allerlei finsteren Gedankenspielen hingegeben – von der sanften Rebellion bis hin zum blutigen Staatsstreich. Doch allenfalls deren Ende hatte jeweils kurz ein grimmiges Lächeln über sein Gesicht fahren lassen. Das hatte sich im Ort herumgesprochen und so ging man eigentlich nur noch dann ins “Zweiradparadies”, wenn das eigene Rad den 14-Kilometer-langen Weg in die nächstgelegene Kleinstadt zur nächsten Fahrradwerkstatt aus eigener Kraft bei bestem Willen nicht mehr zu bewältigen in der Lage sein würde.

Doch heute war irgendetwas anders. Der Kassentresen war unbesetzt. Woche für Woche hatte Siegbert als Zeichen stillen Protests einen schon leicht angewelkten Blumenstrauß für den Tresen gekauft. Heute waren die Blumen frisch, beinahe makellos, wie einem Fleurop-Katalog entnommen. Anstelle der gedimmten Energiesparbeleuchtung des “Zweiradparadieses” waren heute alle Lampen auf voller Kraft geschaltet, so dass die vorbeigehenden Bewohner des Ortes ungläubig in die ungewohnte Helle des sonst stets muffig-finsteren Ladens blinzelten. Und Siegbert summte. Fröhlich. Stand an der Tür und grüßte die Vorbeigehenden. Mit einem Lächeln auf den Lippen. Mutti war weg.

Natürlich würde es Fragen geben.

Nicht gleich heute, aber sicher in einigen Tagen oder Wochen. Für den Moment überwog die Erleichterung, beim Besuch des Ladens den Kassentresen im Hintergrund leer vorzufinden und einem missbilligenden Augenkontakt und einem unangenehmen Gespräch so entronnen zu sein.

Mit den Tagen kamen die Kunden zurück. Hier ein geplatzter Reifen, dort eine blockierende Bremse, jedesmal ein freundliches Gespräch, stets ein aufmunternder Blick. Und wenn Siegbert meinte, sich erklären zu müssen, wechselte ein jeder so schnell wie weitschweifig das Thema.

Siegbert hatte die immer eintönigen und nur im Farbton leicht changierenden Arbeitsanzüge mittlerweile durch Jeans und bunte Hawaiihemden ersetzt. Und die Luftpumpenkollektion in nicht alltäglichen Farben, die ihm schon seit Jahren im Kopf herum gespukt hatte,  erfreute sich zunehmender Beliebtheit bei den Kunden.

Ermutigt durch die ausbleibenden Nachfragen hatte Siegbert schon vor einigen Tagen das Ölbildnis von Mutti aus dem Verkaufsraum entfernt. Seit Kurzem prangte nun auch nur noch sein Name in großen Lettern über der Eingangstür, ohne dass das jemandem aufgefallen oder zumindest ohne dass das von irgendjemandem kommentiert worden wäre.

Fräulein Gerlinde, die nun immer häufiger im “Zweiradparadies” anzutreffen war, hatte nicht nur wegen ihrer weitaus weniger strengen neuen Frisur eine wundersame Wandlung durchgemacht. Den alten Kassentresen hatten sie mit schwerem Gerät entfernen lassen und stattdessen mit drei Bistrotischen eine kleine Kaffeeecke eingerichtet, die Gerlinde mit Gebäck und Getränken aus ihrer kleinen Bäckereifiliale von schräg gegenüber versorgte.

Die Kaffeeecke wurde vom ersten Tag an von den Menschen im Ort lebhaft in Besitz genommen. Und sie kamen jeden Tag wieder, so als würden sie das schon seit Jahrzehnten Tag für Tag machen. Der Platz, an dem noch Wochen zuvor Mutti über das “Zweiradparadies” gewacht hatte, erfüllte sich so mit einer nie gekannten Lebendigkeit.

Glücklich schloss Siegbert eines Abends den Laden ab, nachdem die letzten Gäste gerade gegangen waren. Gedankenverloren hörte er einen der Gäste im Gehen zu dem anderen sagen: “Also mir fehlt der alte Drachen kein bisschen.” Siegbert erschrak kurz, schaute sich vorsichtig um und drehte sich dann lächelnd zur Seite, um summend nach Haus zu gehen.